Annedore Lennartz - Berührend ANDERS
Schriftstellerisch eingefangene Augenblicke zum Thema Demenz.
Freuen Sie sich auf Ihre berührenden Kurzgeschichten.
Autorenbeschreibung:
Annedore Lennartz, wohnhaft in Niederkrüchten,
58 Jahre alt, verheiratet, 2 erw. Kinder
In meinen kurzen abgeschlossenen Geschichten, die Lesedauer beträgt maximal 4 Minuten, habe ich versucht, Situationen und Gefühle wiederzugeben, die sich mir in der Begegnung mit an Demenz erkrankten Menschen eingeprägt haben. Alle Begebenheiten haben sich so zugetragen und sind nicht erfunden. Es sind eingefangene Momente, die ihre eigene Gesetzmäßigkeit und Sprache haben. Passende Fotos dazu sind mit Hilfe meines Mannes entstanden.
Ich habe 14 Jahre in häuslicher Pflege meine Eltern betreut und habe mich erst nach und nach in der Gedankenwelt dementiell veränderter Personen zurechtfinden müssen. Es waren Erfahrungen, die mich nachhaltig geprägt und mich gelehrt haben, umzudenken. Meinen Beruf als Bankkauffrau habe ich aus Liebe zur Familie aufgegeben.
Ab den Jahr 2002, also mehr als 11 Jahre, wurde meine Mutter in Ev. Altenzentrum in Grefrath-Oedt betreut, da sie zu Hause nicht mehr pflegbar war. Sie ist am 11.10.2013 verstorben. Mein Vater hat bis zu seinem Tod im Juli 2010 ebenfalls 8 Jahre im Ev. Altenzentrum in Oedt gewohnt, da er nach mehreren Herzinfarkten und Schlaganfällen und zunehmender Demenz nicht mehr ohne ständige Betreuung sein konnte. Somit kann ich auf 25 Jahre Demenzerfahrung zurückblicken.
Bei meinen Besuchen und ehrenamtlichen Tätigkeiten in verschiedenen Altenzentren erlebe ich immer wieder neue zauberhafte Zeiten mit an Demenz erkrankten Bewohnern. Ich habe sie auch in ganz besonderer Weise mit meinen Eltern erlebt, als sie noch zu Hause und Ev. Altenzentrum in Oedt wohnten.
Jedes Lächeln, jeder gute Augenblick, aber auch die schweren Momente, machten und machen mich unendlich reich und lassen mich immer mehr den Schrecken vor dem eigenen Älterwerden verlieren. Demenz ist eine eigene Welt, eine Parallel-Welt, die nur anders, aber nicht beängstigend ist und es liegt an jedem einzelnen von uns, dazu beizutragen, dass erkrankte Menschen sich in dieser Welt glücklich fühlen und darin gut leben können. Dabei gilt es, sie so zu akzeptieren und respektieren, wie sie sind.
Ich arbeite seit einigen Jahren ehrenamtlich im Redaktionsteam „Die Lupe“, der Hauszeitung des Ev. Altenzentrums Oedt. Seit 4 Jahren bin ich die Chefredakteurin, der alle zwei Monate erscheinenden, 60 Seiten starken, Zeitschrift. Ich schreibe Berichte, Geschichten, Gedichte und Erzählungen in erster Linie für die Heimbewohner, aber auch für alle anderen Leser dieser Zeitung. Ferner verfasse ich auch Geschichten für Kinder und für solche Leser, die sich gerne ein bisschen berühren und verzaubern lassen und schreibe auch für weitere Zeitungen und Zeitschriften.
Um meinen Umgang mit Demenzpatienten und alten Menschen zu optimieren, habe ich verschiedene Schulungen mit Zertifikat absolviert.
Neben weiteren ehrenamtlichen Aktivitäten wie Gottesdienste und Gottesdienstbegleitungen, Besuchsdiensten und vielem mehr, berate ich auch pflegende Angehörige oder Mitarbeiter innerhalb und außerhalb verschiedener Einrichtungen und veranstalte Lesungen und Ausstellungen zum Thema Demenz.
Ein weiteres Vortragsthema ist: „ENTSPANNT ALT WERDEN! Tipps und Tricks!“
Eingebettet in kleine und größere Anekdoten und Begebenheiten gebe ich praktische und anwendbare Ratschläge, die alle Lebensbereiche umfassen. Sie sollen helfen, den Alterungsprozess zu verstehen und ihm gelassen zu begegnen.
Zusätzlich arbeite ich seit weit über 25 Jahren ehrenamtlich für die Bekleidungsmission, sammle und verpacke alles was gebraucht wird in einem kleinen privaten Lager und gebe es dann zum Transport oder an Bedürftige vor Ort weiter.
Gerne kann ich zur Veranschaulichung Bilder und Zeichnungen von meinem Vater und anderen an Demenz Erkrankten zu meiner Lesung und meinem Vortrag mitbringen. Die gesamte „Wanderausstellung“ umfasst mittlerweile ca. 25 Exponate und ist unglaublich interessant und berührend.
Ich hoffe, mit meinen Ausführungen die Herzen der Zuhörer und Betrachter zu erreichen, um so zu zeigen, wie sehr Menschen mit Demenz, aktuell sind es mehr als 1,3 Millionen in Deutschland, auf eine Welt angewiesen sind, in der alle Dinge möglich und normal sind, wenn sie mit den Augen der Liebe und des Verstehens gesehen werden, denn für mich sind und bleiben alte und behinderte Menschen die Perlen auf der Krone der Schöpfung. Sie haben es verdient, durch ein geschärftes integratives Denken, den ihnen zustehenden Platz in einer von Profitdenken bestimmten Gesellschaft akzeptiert und respektiert einzunehmen.
Meine Lesungen und Vorträge, sowie die Bilderausstellung, ja eigentlich alles, was ich tue, erfolgt komplett auf ehrenamtlicher Basis und sind somit mit keinerlei Kosten verbunden.
Jeder Besucher der Veranstaltungen, der mit einem „leichteren Herzen“ und mit einer neuen Sicht auf das vermeintlich Angst einflößende Thema Demenz wieder in seinen Alltag eintaucht, ist mir Dank genug.
Annedore Lennartz
DAS MEDAILLON
Es ist schon komisch. Wie kann etwas verloren gehen, das da ist? Etwas, das du sehen, anfassen und fühlen kannst? Etwas, das du liebst und auch brauchst? Etwas, das für dich da ist, wenn du rufst? Alles kann verloren gehen. Wie, weiß ich nicht. Auf einmal ist es weg. Ich bin auch verloren gegangen, einfach so. Ich habe die Tür geöffnet, wollte mit meiner Arbeit beginnen und war einfach weg.
Die fremde Frau soll sofort wieder gehen, rief meine Mutter. Sie zitterte. Sie hatte Angst. Sie kannte und erkannte mich nicht. Ich war jeden Tag bei ihr, viele Stunden. Sieben Tage die Woche. Immer. Jetzt war ich weg. Sie wollte, dass ich gehe.
ch bin nicht gegangen. Ich konnte nicht gehen. Sie brauchte mich. Sie tat mir so leid. Ich musste das aushalten und sie auch. Alle haben versucht, ihr zu sagen, dass ich noch da bin. Aber sie kannte mich nicht. Es gab mich nicht. Ich habe geweint, gebetet, gehofft. Ich habe mit ihr gesprochen. Habe alte Fotos mit ihr angesehen. Habe um ihr Vertrauen gekämpft. Sie brauchte mich doch. Ich durfte nicht weg sein. Zu Hause pflegen ist schwer, sehr schwer.
Drei Monate war ich aus ihrem Kopf verschwunden. Dann kam ich ganz langsam wieder zurück. Jeden Tag ein Stückchen mehr. Mein Gesicht, meine Stimme, Dinge, die nur ich wusste. Als sie mich ihre „Püppi“ nannte, war ich endlich wieder da. Ein unbeschreibliches Gefühl für uns beide. Es machte alles viel leichter.
Ich möchte nie wieder weg sein. Sie möchte auch nicht, dass ich wieder weg bin. Ich habe ihr ein Medaillon geschenkt. Mein Bild ist darin. Wenn ich im Heim bei ihr bin, zeigt sie erst auf mich, dann auf das Medaillon. Ich bin darin eingesperrt. Ich kann nicht mehr weg.
Sie fürchtet sich sehr davor, wieder zu vergessen, dass ich ihre Tochter bin. Sie sagt es nie. Aber ihre Augen verraten sie. Ich bin ja hier, sage ich dann. Ich bin deine Annedore für immer und du bist meine Mutter. Wir haben dieselbe Nase. Dann lacht sie und umklammert das Medaillon mit ihrer rechten Hand. Aber die Angst bleibt. Bei ihr und bei mir.
Annedore Lennartz
DER ENGEL
Wir sitzen im Heim im Italienischen Markt. Vater, Mutter und ich. Vor uns ein gedeckter Tisch. Kaffee, Wasser, ein belegtes Brötchen. Unsere Wohnstubeninsel. Um uns herum viele Leute. Alle an Wohnstubeninseln. Ich lache, erzähle und fuchtele mit den Händen in der Luft herum. Es gibt so viel Aufregendes in der Welt da draußen vor den Wohnstubeninseln. Mein Vater hört sehr aufmerksam zu. Er freut sich, wenn ich draußen nach drinnen hole.
Im Gesicht meiner Mutter keine Regung. Mechanisch greift sie nach ihrem Brötchen und kaut versonnen. Ich halte inne, schweige einen Moment und streichele ihren Arm. Keine Reaktion. Sie sieht mich nicht mal an. Ich stehe auf, umarme sie und gebe ihr einen Kuss. Sie lässt es geschehen. Ohne Reaktion. Ohne ein Wort.
Ich kenne diese Tage. Es sind die “Knoten in meinem Herz Tage“.
Plötzlich taucht an unserem Tisch ein kleines Mädchen auf. Ein rotes Mäntelchen, bunte Strumpfhosen, blonde Haare. Etwa fünf Jahre alt. Steht da, strahlt meine Mutter an und sagt: Na!
Nur, Na. Nichts weiter. Mutter wendet den Kopf, sieht sie an und lächelt glücklich. Nach einer Weile geht die Kleine, das Kind einer Pflegerin, davon. Als ich meine Mutter im Rollstuhl zum Abendessen fahre, ist Mutter wieder in ihrer unendlichen Kopfwelt unterwegs. An ihrem Tisch knie ich mich vor sie. Ich gebe ihr eins ihrer geliebten Stofftiere in den Arm und umarme sie. Ich bin übermorgen wieder da, sage ich und kämpfe mit den Tränen. Die“ Knoten in meinem Herz Tage“ tun schrecklich weh.
Noch in der Hocke, zupft etwas an meinem Ärmel. Das kleine Mädchen steht neben mir und sieht mir fest in die Augen. Du kannst jetzt gehen, sagt sie. Ich pass jetzt auf die Oma auf. Sie stellt sich genau vor meine Mutter und lächelt. Und Mutter? Sie lächelt zurück. Dann streicheln eine große und eine kleine Hand gemeinsam das Stofftier in ihrem Arm. Am Ende des Flures bleib ich stehen und sehe mich um. Ein Bild voller Liebe bietet sich mir.
Der kleine Engel hat den“ Knoten in meinem Herz Tag“ in stillen Frieden verwandelt.
Annedore Lennartz
DIE APFELSINE
Sie konnte nur noch ein bisschen laufen, zu wenig für normale Wege und zuviel, um schon im Rollstuhl zu sitzen.
Sie wollte einkaufen. Was wusste sie nicht so genau. Die Worte fingen schon an zu fehlen, aber die Wünsche waren noch da. Nur einkaufen eben. Mit mir. Meine Mutter.
Ich hatte Sorge. Würde das klappen? Wir fuhren mit dem Auto zum Supermarkt. Nicht weit. Nur ein bisschen einkaufen eben.
Ganz krumm stand sie neben mir. Osteoporose. Die Wirbel brüchig wie Glas. Ich sah sie an und sie mich. Sie fühlte sich sicher. Ganz fest umfingen ihre Finger den Griff des Einkaufswagens. Sie setzte Fuß vor Fuß, ganz langsam.
Die Leute schüttelten den Kopf. Langsamkeit passt beim Einkaufen nicht. Vergesslichkeit auch nicht. Aber sie merkte es nicht. Sie wollte nur einmal einkaufen. Selbst. Wieder etwas schaffen. Alleine mit mir.
Wir gingen ohne Worte. Ihre Langsamkeit tat mir gut. Sie zwang mich in die Knie. Wir kamen bis zur Obsttheke. Vor uns lagen Berge von Äpfeln, Birnen, Weintauben, Bananen und Apfelsinen.
Ehrfürchtig sah sie die Früchte an. Streckte begehrend eine Hand aus. Ich drehte den Einkaufswagen. Jetzt konnte sie besser an die Früchte heran. Sie streichelte sie mit den Händen.
Die Leute guckten mitleidig angewidert. Behindert passt beim Einkaufen nicht. Ist nicht schön. Ich gab ihr eine Apfelsine. Herrlich orange. Herrlich groß. Mit beiden Händen hielt sie sie. Apfelsine? Sie konnte sich nicht erinnern. Was ist eine Apfelsine? Ihr Kopf suchte. Mit beiden Händen befühlte sie sie. Die raue Haut, das leuchtende Orange. Mit beiden Händen hob sie sie zum Gesicht. Streichelte ihre Wangen mit dem orangen Ball. Rollte ihn zur Nase und atmete ganz tief ein. Dann lächelte sie. Nein. Sie strahlte über das ganze Gesicht. Sie erkannte den orangen Ball und wollte viele davon. Eine ganze Tüte voll.
Sie war glücklich. Die Leute schüttelten den Kopf. Aber sie hatte eingekauft. Selbst.
Langsamkeit und Vergesslichkeit passen beim Einkaufen. Ich brauche ja auch Zeit und einen Zettel, wenn ich losziehe.