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Hilfe für Waisen- und Sozialwaisenkinder in Peru

Texte von Vera Oelmann, die sich ehrenamtlich für "Hilfe für Waisen- und Sozialwaisenkinder in Peru" engagiert.
Kinder aus aller Welt unter einem Regenbogen
Unter einem Himmel

Kurzgeschichten und Gedichte von Vera Oelmann

Vogelschwarm am Meer
Foto: Unsplash / pixabay.com

Vera Oelmann
Kinderlied, an der Krippe zu singen

Einst war die Welt von den Sternen erhellt,
da kamst du Heiland zu uns auf  die Welt.
Wolltest, dass Menschen sich liebend verstehn.
Sag uns, was ist mit der Welt nur geschehn?

Engel verkündeten Frieden und Freud.
Christkind, sag, warum nur streiten die Leut?
Warum gibt’s Krieg? Warum Hunger und Not?
Warum schießt einer den anderen tot?

Kaum jemand hat noch für andere Zeit,
wendet sich ab, sieht er Kummer und Leid,
denkt nur an sich und an sein Wohlergehn.
Christkind, wir können das gar nicht verstehn.

Komm, schenk uns Hoffnung und Frieden dem Land.
Öffne die Herzen, gib Menschen Verstand.
Glätte die Wogen, beherrsche den Wind,
mach dass die Menschen stets brüderlich sind.

O, hab Erbarmen, wenn Tiere in Not.
Rette die Armen, gib Hungernden Brot.
Tröste die Kranken, mach Traurige froh.
Christkind, wir danken und bitten dich so.

Denk an die Kinder, die elend und arm
ziehn durch die Straßen. Dich ihrer erbarm!
Sie, die geboren ohn´ Liebe und Licht
sind sonst verloren. Verlasse sie nicht!

Schick deine Englein vom himmlischen Zelt,
dass sie behüten die Kinder der Welt,
lasse sie  führen an sicherer Hand
in eine Zukunft in friedlichem Land.

Sind Menschen einsam, steh Du ihnen bei.
Mit uns gemeinsam reiß Mauern entzwei.
Hilf uns bewahren die Vielfalt der Erd,
dass sie in Jahren noch Kinder ernährt.

Du liebst uns alle, ob arm oder reich,
Kindlein im Stalle, vor dir sind wir gleich.
Beim Glanz der Kerzen, o, zieh bei uns ein,
lass in den Herzen stets Weihnachten sein.

Vera Oelmann
Der Feind ist jung und schön

Einmal habe ich den Feind aus der Nähe gesehen.
Er war jung und schön und hatte große dunkle Augen, die ganz erstaunt in den Himmel sahen. So, als erblicke er dort etwas sehr Schönes und Wunderbares.
Und ich hoffe noch heute, dass er es wirklich gesehen hat. 

Er lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Hahnweg direkt vor der Tür des kleinen Zöllnerhäuschens meiner Großmutter in Braubach am Rhein.
Von seiner Leiste führte eine dünne rote Spur bis zum Rinnstein und weiter bis zum Gully.

Es war im Frühjahr 1945, unmittelbar vor dem Ende des zweiten Weltkrieges. Uns Kindern war es strikt versagt, nach den Straßenkämpfen vor die Tür zu gehen, weil wir die vielen Toten nicht sehen sollten.
Am Morgen ist jemand vom Bürgermeisteramt mit einem Sprachrohr durch die Stadt gegangen und hat dieses Verbot verkündet. Aber ich habe das Fenster und den grünen Holzladen in der Wohnstube geöffnet und mir den Franzmann angesehen. "Franzmann", so nannten sie damals die Franzosen, die über den Rhein gekommen waren um zurückzuschlagen für das, was die deutsche Wehrmacht in Frankreich angerichtet hatte.

Ganz lange habe ich ihn mir angeschaut, den jungen toten Soldaten, und ich fand überhaupt nichts Feindliches an ihm. Im Gegenteil, ein bisschen sah er aus mit seinen halblangen dunklen Haaren, dem feinen Gesicht und der schmucken Uniform wie der Prinz, der Dornröschen vom hundertjährigen Schlaf erweckt hatte und der sich nun selbst nach dem Kampf mit der Dornenhecke ein wenig ausruhte.

Es war zum ersten Mal in meinem damals fünfjährigen Leben, dass ich einen Jungen so ausgiebig und lange betrachtete. Und es war in der Tat noch ein Junge, denn er zählte kaum 17 Lenze.
"Das soll der Feind sein?" Ich konnte es gar nicht glauben. Und wenn ich mir in späteren Jahren mein Leben vorstellte, wenn ich Geschichten und Gedichte schrieb, so sah der jugendliche Liebhaber, der Held darin immer ein wenig aus, wie jener junge tote Soldat.

Großmutter ertappte mich bei meinen heimlichen, versonnenen Betrachtungen. Aber sie schalt nicht mit mir, weil ich gegen das Verbot einfach das Fenster geöffnet hatte.
Sie schaute auf den toten Jungen und ich sah, dass ihre Augen ganz feucht wurden. "Dieser verdammte Krieg," entfuhr es ihr zornig. "So ein junger Bursche! So ein Bub! Mein Gott, die arme Mutter! Es ist eine Schande!"
"Aber", so sprach sie weiter und es klang, als ob sie sich selbst trösten müsse, "seine Seele ist nun im Himmel. Ja, seine Seele ist bei Gott." - "Und da ist immer Frieden", fügte sie nach einer Weile leise hinzu.
Meinst du denn, Großmutter, dass Soldaten auch in den Himmel kommen? Sie schießen doch Menschen tot!" Sie sah mich groß an, indem sie mir über das Haar strich, ihren Arm um mich legte und mich an sich drückte.
"Aber gewiss, Kind. Natürlich kommen sie in den Himmel! Da bin ich ganz sicher. Denn schau, dieser Junge ist bestimmt nicht aus Übermut in den Krieg gezogen und aus Lust am töten.
Wahrscheinlich wurde er ebenso dazu gezwungen, wie so viele unserer Männer."

"Wieso gezwungen, Großmutter?" Fragend sah ich sie an. "Man kann doch niemanden zwingen, zu schießen. Der braucht das doch einfach nicht zu tun. Ich jedenfalls würde das nicht tun, auch wenn man mir das noch so oft befiehlt!" Großmutter nickte: "Wenn alle so denken würden, Kind, gäbe es keine Kriege. Das wäre schön. Aber leider denken nicht alle so.
Schau mal, selbst ihr Kinder zankt und streitet euch ja auch ab und zu und manchmal schlagt ihr euch sogar. Wenn einer anfängt, zu schlagen, schlägt der andere zurück, weil er kein Feigling sein will. 
Damit fängt es an. Dann greifen die Freunde ein, um zu helfen und am Ende weiß keiner mehr so ganz genau, worum eigentlich gestritten wird. Siehst du, das ist dann auch schon ein kleiner Krieg."

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Das verstand ich. "Und bei den Erwachsenen ist das ebenso?" "Ja, jedenfalls sehr ähnlich.
Nur noch viel viel schlim-mer, denn die Erwachsenen kämpfen nicht nur mit den Fäusten, sondern mit Panzern und Flugzeugen, mit Bomben, Raketen, Kanonen und Gewehren.
Wenn die Großen, die ein Land regieren, sich streiten, geht es meistens um Macht, um Geld, um Landbesitz oder um den Glauben. Dann kämpfen aber nicht die Regierenden gegeneinander, sondern sie befehlen ganz einfach ihren Untertanen, das für sie zu tun. Das ist ja das Verbrechen. Sie geben einfach den Befehl, Krieg zu führen! Und wehe, jemand weigert sich, in den Krieg zu ziehen! Befehl ist Befehl, da müssen alle gehorchen.
Und wenn einer nicht mitmachen will, dann ist er ein Befehlsverweigerer, ein Deserteur, dann wird er eingesperrt oder sogar getötet."

Mir stockte der Atem und empört rief ich dazwischen: "Das ist ja fürchterlich, Großmutter! Das ist ja eine richtige Gemeinheit!" "Ist es auch, Kind.
Dein Vater zum Beispiel würde doch jetzt auch viel lieber mit dir spielen, zur Arbeit gehen und Geld für euch verdienen oder im Garten Blumen und Gemüse pflanzen, anstatt draußen an der Front zu kämpfen.
Aber er muss. Denn im Kampf hat er wenigstens noch eine kleine Chance, am Leben zu bleiben. Wenn er sich geweigert hätte, wäre er schon verhaftet worden vielleicht sogar schon tot.
Glaub mir", fügte sie hinzu, "eigentlich wollen die wenigsten Soldaten töten. Sie wollen beschützen. Nämlich das, was sie lieb haben: ihre Kinder, ihre Frauen, ihre Mütter, ihre Tiere und natürlich auch ihr Land, ihre Stadt und das Haus, in dem sie wohnen. Ja, wenn sich alle Väter der Welt gemeinsam weigern würden, in den Krieg zu ziehen, dann gäbe es vielleicht eine Chance, in Frieden zu leben.
Aber das bleibt wohl immer ein schöner Traum, denn die Menschen sind sich selten einig."

"Aber der Soldat dort ist doch noch gar kein Vater, Großmutter. Er sieht ja aus wie ein Schulbub.

Warum war der denn im Krieg?" wagte ich einzuwenden. Großmutter schluckte. "Ja, das ist er sicher auch noch. Es ist ganz schrecklich!
Weißt du, wenn die erwachsenen Männer in so einem fürchterlichen Krieg verwundet, gefangengenommen oder sogar tot und nicht mehr für den Krieg zu gebrauchen sind, dann holen sie einfach die Kinder, die noch zur Schule gehen oder die jungen Burschen, die gerade damit begonnen haben, einen Beruf zu erlernen oder zu studieren. "

Ganz interessiert und sehr aufgeregt lauschte ich dem, was Großmutter sagte, während ich meine Augen nicht von dem toten Jungen wenden konnte.
Richtig zornig wurde sie, als sie fort fuhr: "Wer sich Krieg ausdenkt, ist ein Verbrecher! Er muss entweder den Teufel im Leib oder sehr krank im Kopf sein.
In jedem Fall gehört er weggesperrt! Entweder ins Gefängnis oder in eine Heilanstalt. Denn Krieg ist immer eine ganz entsetzliche Sache. Für alle, die damit beginnen und für alle, die hineingezogen werden.
Und meistens trifft es dann auch noch die Unschuldigen, die gar keinen Krieg wollten, die Frauen, die Kinder und diesen Bub da!" Großmutters Augen blitzen. Erstaunt sah ich sie an. So kannte ich sie gar nicht.
Sie, die immer so gerne lachte und uns Kindern Geschichten und Märchen erzählte, die mit uns sang und tanzte, sah plötzlich selbst aus wie eine mutige Kämpferin.
Aber ich merkte sehr wohl, dass sie auf ihre Art für etwas sehr Gutes, nämlich für eine friedliche Welt kämpfte.

Nach einer Weile des Schweigens, in der sie erschöpft die Augen schloss und vor sich hin nickte, so als müsse sie das, was sie von sich gegeben hatte, sich noch einmal selbst bestätigen, sagte sie leise: "Krieg ist die Hölle auf Erden!" Fast drohend schaute sie nach oben und fügte flüsternd hinzu: " Und der liebe Gott wäre kein lieber Gott, wenn er die Menschen, die auf Erden schon die Hölle erlebt haben, nicht bei sich aufnähme."

Dann holte Großmutter eine wollene Decke und ging hinaus, um sie über dem toten Jungen auszubreiten. "Es wird kalt werden heute Nacht", meinte sie "und wir wollen doch nicht, dass er friert."

Zwei Tage später wurde er abgeholt. Man trug ihn in der Wolldecke durch die Sommergasse hinunter in die Rheinstraße. Dort stand ein großer Lastwagen mit vielen Toten. Niemand weiß genau, wohin sie gebracht wurden.


Nachwort

Vor einiger Zeit erzählte ich einer Freundin von diesem traurigen Erlebnis aus meinen Kindertagen. Sie meinte, dass es eigentlich schade sei. Schade, dass ein Mensch, den meine Gedanken nach so langer Zeit, nach fast sechzig Jahren, noch immer begleiten, nichts davon weiß.

"O doch", sagte ich nur, "er weiß es. Da bin ich ganz sicher. Er weiß es bestimmt, denn er ist jetzt hier. Ich spüre es ganz genau." Sie sah mich an und verstand.

(c) Vera Oelmann

Vera Oelmann
Perus Kinder

Augen. O, diese Augen.
Diese Trauer
tragenden Augen.....

Ich sehe sie morgens,
ich sehe sie mittags,
ich sehe sie abends,
ich sehe sie nachts.
Hilflose Augen
verlorener Kinder
am Rande einer Millionenstadt.
Alte, wissende Augen
voller Verzagtsein.
Hungernde, frierende Augen,
misstrauisch und kampfbereit.

Nicht weit davon
zwischen den Bergen
ein kleines, blühendes Dorf:
Aldea Infantil -
"Oase der Hoffnung" -.
Lächelnde Augen
voll Zuversicht.
Augen, die vergessen wollen
und die wohl nie
vergessen können.
Augen, immer noch
zweifelnd und scheu,
aber voll Dankbarkeit, Wärme
und wiederentdecktem Vertrauen....

Augen, die fragen:
"Bringst du uns Zukunft,
du aus dem fernen Land?
Bringst du uns Liebe?
Bringst du uns all das,
was wir verloren haben?“

Ich öffne die Hände und denke:
"Meine geliebten Kinder,
ich bringe euch alles,
was ich besitze:
Meine Stimme, meine Kraft
und mein ganzes Herz."

(Vera Oelmann)

Vera Oelmann
Der Spatz auf Gottes Schulter

Ein kleines Dorf in den Bergen. Es ist Sonntagmorgen und bitterkalt.
Das lautstarke, ohrenbetäubende Geläut der großen Dorfkirche oben am Hang, die mit ihrem kupferfarbenen Zwiebelturm weit ins Tal hinaus schaut, schallt als Echo zurück von der gegenüber liegenden Steilwand, lässt die Eiszapfen vor den Fenstern klirren und den Schnee von den Tannen rieseln. Und davon gibt es heuer genug. Die sonst so beschaulichen Häuser des kleinen Ortes sehen mit ihren schwarzen Fensteraugen unter weißen Zipfelmützen aus wie vermummte Gnome, die versuchen, sich in einem dicken weißen Federbett zu verstecken. Und was sie sehen, verwundert sie nicht. Denn immer, wenn das ohrenbetäubende Geläut der Kirchenglocken erschallt, öffnen sich die Türen der Häuser und herausströmen festlich geputzt die Dorfbewohner. Ob alt oder jung, alles ist auf den Beinen. Und was noch nicht oder nicht mehr laufen kann, wird gezogen oder geschoben. Auf dem Dorfplatz treffen sie zusammen, um dann gemeinsam ihren Weg fortzusetzen nach oben. Dorthin, woher das Geläut schallt.

Heute ist es ein Schauspiel ganz besonderer Art, denn eine bunte Menschenschlange windet sich auf weißem Schneeteppich den Berg hinauf, um dann im schwarzen, weit geöffneten Kirchenschlund zu verschwinden.

"Die Kirche frisst eine Menschenschlange". Der als etwas eigensinnig geltende, aber stets freundliche Berghof-Bauer steht schmunzelnd am Eingang seines Gehöfts und schüttelt den Kopf. Nein, das ist nichts für ihn.
Er hält nicht viel von diesen sonntäglichen Versammlungen in muffigen Kirchengewölben, die noch nie einen Sonnenstrahl gesehen haben. Und er zweifelt sehr daran, ob sich der liebe Gott dort wirklich wohlfühlt.
Hier draußen, in freier Natur, ja da ist Gott überall, sagt er sich. Man braucht nur seine Augen und Ohren offen zu halten. Im Rauschen des Wassers und der Bäume, im Gezwitscher der Vögel, im Wachsen jedes kleinen Grashalms, in Wind, Sonne und Regen, ja selbst in jeder Schneeflocke meint er Gottes Atem zu spüren.

Und überhaupt: Die meisten der Dorfbewohner gehen ja wohl nur in die Kirche, weil es hier im Ort so Brauch ist, weil der Pfarrer als Amtsperson es von ihnen erwartet, weil sie sich zeigen wollen und vor allem, weil sie zeigen wollen, dass sie fromm und gottesfürchtig sind. Das gehört sich so. Aber was ist das für eine Gottesfürchtigkeit, für ein Glaube, wenn sich doch niemand an das hält, was in der Bibel steht und was der Pfarrer in bester Absicht von der Kanzel predigt. Gottesfürchtigkeit! Wenn er das schon hört. Als ob man Gott fürchten muss! Den Teufel und die Hölle, ja die könnte man fürchten. Wenn es sie denn gäbe. Der Berghof-Bauer ist überzeugt davon, dass Teufel und Hölle nur eine Erfindung der Kirche sind, um die Menschen gefügig zu machen. Natürlich gibt es Teufel, aber die leben auf der Erde. Und die Hölle gibt es auch. Aber die befindet sich ebenfalls auf der Erde, nämlich überall dort, wo Krieg und Zwietracht ist. Gott muss man nicht fürchten. Man kann ihn lieben und dankbar sein für das Leben und alles, was er geschaffen hat. Ja, das sollte man sogar. Aber dafür braucht man keine Kirche. Man kann auch mit ihm sprechen und ihn um seinen Schutz bitten. Aber auch dafür ist keine Kirche erforderlich. Und wenn er in der Bibel lesen und sich seine Gedanken über das von Menschen geschriebene Wort Gottes machen will, so kann er das auch allein. Denn lesen und schreiben hat er in der Schule gelernt und denken muss man ohnehin von früh bis spät, wenn man das Leben meistern und seine Familie versorgen will.

Und dann: Viele der Kirchgänger hören ja nicht einmal zu! Sie schlafen während des Gottesdienstes- Ein Beweis dafür, wie recht er hat, ist doch das, was seine Frau ihm erzählte. Letzte Woche ist der Buchsteiner Sepp, der immer so fromm tut, während der Predigt einfach eingeschlafen. Laut geschnarcht haben soll er. Natürlich kann das einmal vorkommen, wenn einer bis in die Nacht hinein hart gearbeitet hat. Aber der Sepp hat nicht gearbeitet.
Im Wirtshaus hat er gesessen bis weit nach Mitternacht.

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Und Ladschneiders Alois ist vorige Woche - wie so viele andere auch - gleich nach dem Gottesdienst zum Dorfwirt gegangen. Dort hat er sich vollaufen lassen, um anschließend seine Frau zu beschimpfen, weil die Kartoffeln kalt waren, als er verspätet heimkam. Nein, nein, solche Heuchelei ist nichts für den Berghof-Bauern. Gewiss ist die Kirche für den einen oder anderen ja wichtig, das will er ja gar nicht bestreiten.
Sie ist so etwas wie ein Stützgerüst, ein Korsett für all die. die alleine zu schwach sind, an den lieben Gott zu glauben. Er jedenfalls braucht sie nicht. Und wenn er dann sieht, wie die eifrigen Kirchgänger gleich nach dem Vaterunser auf dem Kirchhof zusammenstehen und sich die Köpfe heiß reden, fühlt er sich in seiner Ansicht noch mehr bestätigt.

Keinen lassen sie aus. Ob es nun die Grete vom Brunnenwirt ist, die ein uneheliches Kind von einem Städtischen bekam und damit Schande über das Dorf gebracht haben soll oder der Lehrer, der es gewagt hat, den Kindern etwas von alten Kulturen, von den Kelten, von indianischen Gottheiten und von Religionen anderer Völker zu erzählen. Verführen will er sie, was denn sonst? Es gibt nur einen Gott und eine alleinseligmachende Kirche, nämlich die katholische und die hat immer Recht. Damit Basta!

Der letzte Pfarrer musste gehen, nur weil er seine Haushälterin heiraten wollte. Und den so fleißigen Tom wollten sie aus dem Dorf treiben, seiner Hautfarbe wegen.
Jetzt arbeitet er auf dem Berghof und kümmert sich fürsorglich um das Vieh. Er ist die beste und zuverlässigste Arbeitskraft, die der Berghof-Bauer hat und lebt zusammen mit der Berghof-Familie, den anderen Knechten und Mägden, den Katzen, Hunden und dem Vieh glücklich und zufrieden im Berghof.

Die kurdische Familie wird von allen gemieden und nicht einmal gegrüßt, nur weil die Frauen Kopftücher tragen. Auch sie hat der Berghof-Bauer bei sich aufgenommen. Und wehe dem, der es wagt. sie zu beleidigen.
Denn keinen, aber auch gar keinen, der anders ist als sie selbst, lassen sie aus bei ihren Hetzkampagnen und meinen, dem einen oder anderen müsse einmal ein gehöriger Denkzettel verpasst werden. So sind sie, die Leute.

Und damit will der Berghof-Bauer nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Für ihn sind alle Menschen gleich wichtig, wenn sie nur das Herz auf dem rechten Fleck haben und freundlich miteinander umgehen. Auch die Tiere gehören dazu, denn schließlich sind alle Gottes Geschöpfe vom gleichen Schöpfungstag. Er, der Berghof-Bauer, will nichts weiter als seine Ruhe und in Frieden leben. Und das tut er auch. Nicht, dass er nicht sagt, was er denkt.
O, doch, das macht er. Und er mischt sich ein bei Ungerechtigkeiten in einer Weise, dass man ihm nicht zu widersprechen wagt. Für starrköpfig halten ihn deshalb viele. Na und? Sollen sie doch. Ihn stört es kaum.

Er liebt seine Frau und seine Kinder, arbeitet und sorgt für sie und versucht, wo es geht, ihnen eine Freude zu bereiten. Es wird viel gelacht auf dem Berghof. Und viel musiziert und gesungen. Und im Winter, wenn die Feldarbeit ruht, wird geschnitzt, gehobelt, gesägt, gebastelt, gemalt und genäht.

Viele schöne Dinge sind auf diese Weise schon im Berghof entstanden, mit denen sie anderen Menschen eine Freude bereiten konnten. Er selbst freut sich im Winter über die schneebedeckten Berge, Wiesen und Felder, im Frühling staunt er immer wieder über die blühenden Bäume und die keimende Saat und im
Herbst ist er glücklich über eine gute Ernte. Ja, er ist dankbar für dieses Leben. Für dieses schöne, wenn auch manchmal beschwerliche Leben hier oben in den Bergen. Und diese Dankbarkeit zeigt er mit freundlichen Worten für die, mit denen das Schicksal es nicht so gut gemeint hat und mit kleinen Gaben für die Kinder und Armen des Dorfes.

Ja, Schenken bereitet ihm Freude. Hier ein paar Äpfel von seinem Baum. etwas Selbstgenähtes. Geschnitztes oder Gebasteltes, dort ein Brot, das die Bäuerin gebacken hat oder etwas Butter, Käse.
Ein paar Eier und einen Topf Milch von seinen Tieren. Das sind Gottes Gaben, denkt er und nicht das neue Kostüm von der Erbhof-Bäuerin oder die teure Uhr vom Sägewerk-Besitzer.

So geht der Berghof-Bauer auch an diesem herrlichen Sonntagmorgen mitten im Winter seinen Gedanken nach und stapft über die schmale, menschenleere und schneebedeckte Dorfstraße, an deren Seiten sich die Schneeberge meterhoch auftürmen. Da sieht er am Rande der Straße in einer Schneewehe einen kleinen toten Vogel liegen. Einen kleinen grauen Spatz, an dem die Kirchgänger achtlos vorübergeeilt sind. Voller Erbarmen und sehr behutsam nimmt er das kleine Geschöpf in seine großen groben Hände. Ein richtiges Bett formt er ihm daraus. Darin liegt auf dem Rücken, mit steif gefrorenen Flügeln, der kleine Sperling. Und er führt seine Hände ganz dicht zum Mund und haucht seinen warmen Atem darauf. Immer und immer wieder. Und da, ganz plötzlich regt sich der Vogel, flattert ein wenig dreht sich und setzt sich auf seine Füße.

Mit schräg gestelltem Köpfchen sieht er den Bauern lange an. Dann holt er tief Luft, schwingt seine Flügel und fliegt zwitschernd davon.
Immer höher fliegt er, bis er als kleiner von der Wintersonne beschienener Leuchtpunkt am Himmel verschwindet.

Das alles liegt viele Jahre zurück. Die Haare des Berghof-Bauern sind inzwischen weiß geworden, sein Gesicht ist zerfurcht und der Rücken schmerzt vom vielen Bücken auf den Feldern.
Er spürt, dass für ihn die Zeit gekommen ist, in der es heißt, Abschied zu nehmen. Abschied von einem arbeitsreichen aber glücklichen Leben in seinem Dorf.
Abschied von seinem Hof, seinen Feldern und von seinen Tieren, die ihm so viel bedeuten. Abschied von allem, was ihm lieb ist, von seiner Frau, seinen Kindern und Großkindern, die ihm so viel Freude bereitet haben.
Aber er klagt nicht. Wie es seiner Art entspricht, macht er nicht viel Aufhebens von seinen Gebrechen. Und so geht er auch an diesem Tag mitten in der Heuernte, nachdem er eine gute Zeit gewünscht hat, hinaus aus seinem Hof und hinauf auf seine Wiesen am Hang. Man findet ihn zwischen Blumen und Gräsern neben seinem winselnden Hund.

Als er erwacht, steht er vor Gott. Der sucht und sucht in einem dicken Buch, blättert von vorn nach hinten und von hinten nach vorn. Immer wieder schüttelt er den Kopf, sieht ihn an uns sagt:

"Ich weiß nicht, ich weiß nicht. Dich gibt es ja gar nicht, Bauer! Weder bei den Schlechten noch bei den Frommen! Was soll ich nur mit dir anfangen?" Und während er so spricht, kommt ein kleiner Sperling angeflogen und setzt sich auf Gottes Schulter. Sehr aufgeregt schilpt er ihm etwas ins Ohr, was nur Gott verstehen kann.

Ganz langsam breitet sich ein Lächeln über Gottes Gesicht aus und seine so gütigen Augen strahlen, als er sagt: "Ja Berghof-Bauer, du bist es! Kein Wunder, dass ich dich in diesem Buch nicht finde, du warst ja nie in der Kirche."

Schmunzelnd droht er ihm mit dem Finger. "Aber ich kenn' dich. Ich kenne dich gut, denn ich hab' dich schon lange beobachtet und ich hatte meine helle Freude an dir.
Wenn einer von den Leuten in deinem Dorf ein Anrecht hat auf einen Platz im Himmelreich, dann du zuerst!"

Und so ist es gekommen, dass dem alten etwas eigensinnigen Berghof-Bauern, der nie im Leben einen Fuß in die Kirche gesetzt hat, dem Menschlichkeit, Fürsorge, Nächstenliebe und Achtung vor aller Kreatur wichtiger waren als alle Frömmelei, die Gnade des ewigen Lebens zuteil wurde.

Vera Oelmann
Hunger

Meine Augen
wollen Schönheit sehen
und meine Seele
hungert nach Menschlichkeit
und Wärme.
Aber die Stufen
zum Licht sind hoch
und der Weg
zum gedeckten Tisch
ist dornenversperrt.

Vera Oelmann
Der Wildbach und der Zauberer
(Märchen des Lebens)

Seine Quelle entsprang in einem Märchenwald. Munter über Moosgestein hüpfend küsste er Blumen und umspielte neckisch die ehrwürdigen Wurzeln betagter Bäume. Voll Übermut riss er die kleinen losen Grasbüschel mit sich fort und ließ sie auf seinen Wellen tanzen. Doch wenn welke Blätter auf ihn hernieder sanken, wenn vom Sturm gebrochene Zweige auf ihn wehten, verstummte bisweilen sein Plätschergesang und auf sanften Wogen wiegte er tröstend die Leidvollen. Bis in der nächsten Biegung die Fangarme des Ufergestrüpps nach ihnen griffen, sie einfingen und zur Ruhe zwangen.

Ein wenig verwirrt setzte er dann seinen Weg fort, schickte auf Geheiß der Sonne dem Regenmacher seinen Dunst, weiter sich schlängelnd durch Wiesen und Wälder. Plätschernd durch beschauliche Orte, hier und da einen Plausch haltend mit Bachstelzen, Libellen und Gänseblümchen, vertrieb er die frechen Stechmücken mit eiskalten Spritzern und ließ bunte Schmetterlinge auf seinen Schaumkronen reiten. Er vergnügte sich mit allerlei Gespielen, nicht achtend der Klippen, auf die er unweigerlich zusteuerte.

Und dann geschah es: Ganz plötzlich und ohne Vorwarnung stürzte er ab, hart aufschlagend auf kantigem Felsgestein. Sich wild aufbäumend kämpfte er sich durch bedrohliche Schluchten, um dann in weitem Bogen an lauten Städten, die seine Ufer zu begrenzen drohten, vorbeizurauschen - immer ein Ziel vor Augen: Das Meer. Denn das Meer, das von Nichts und Niemandem einzuengende Meer, in dem sich alles vereint und doch alles frei ist, war für ihn die große Erfüllung.

Bis er dem großen Zauberer begegnete. Er sah nicht die Geyer, die ihn umkreisten. Er sah nur seine Augen, gütig und tief wie das Meer, und er lauschte seiner Stimme, die den Klang der alten weisen Bäume aus dem Märchenwald seiner Kindheit hatte. Und als der Zauberer dem kleinen Bach von den großen Sternen erzählte und ihm in seiner Zauberkugel die Schönheit der Welt zeigte, als er ihm sagte, er könne sich den weiten Weg zum Meer ersparen, denn er, der Zauberer könne ihm dazu verhelfen, dass er selbst zum Meer würde, kam eine große Ruhe über ihn.

Müde vom Plätschern, Springen, Trösten, Stürzen und Kämpfen schlief er voll Vertrauen ein. Und er träumte von einem Meer, in dem sich alle Sterne spiegeln mit Ufern, so weit, dass niemand sich eingeengt fühlt und einem Grund, so tief, dass keiner ihn aufwühlen kann und der seiner Heimat, dem Märchenwald mit seinen wundersamen Pflanzen und zutraulichen Tieren, sehr ähnlich war.

Er schlief lange, der kleine Bach, doch dann erwachte er jäh durch lautes Getöse. Er erkannte sich nicht wieder. Breit und behäbig lag er da und vor ihm war ein riesiger Staudamm. Grau und bedrohlich ragte die Mauer in den sternenlosen Himmel. Aus ihm, dem einst so munteren Wildbach, war ein Stausee geworden. Auf dem fegten nun spritzige Sportboote und trugen ihre Wettkämpfe aus. Es ging um Macht und Geld und jeder wollte gewinnen.

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Grellbunte Surfer zerschnitten seine Haut, während der Zauberer erschöpft und mürrisch in einer Mauernische kauerte und argwöhnisch das Treiben beobachtete. In der Hand hielt er eine Flasche. Und je mehr er von seinem Zaubertrank schluckte, um so trüber wurden seine Augen.

Manchmal tuckerten Ausflugsboote müde über die graue Oberfläche des Stausees und die schrillen Gesänge der Ferienmacher erschreckten seine Tiefe. An seinen Ufern saßen scharenweise Angler, immer Ausschau haltend nach seinen schillernden Fischen während fahlgrüne Algen, vom Rand heran schleichend, langsam über seinen Spiegel wucherten.

Ganz still, wie gelähmt, lag der See da und hoffte auf ein Wunder, indessen seine Tränen fassungslos durch die winzigen undichten Stellen der Staumauer rannen. Vom Zauberer unbemerkt trocknete sie der Wind, aber Trost brachte er ihm nicht.

Manchmal, wenn eine Sturmböe aufkam, versuchte der See den wie versteinert dasitzenden Zauberer mit kleinen harten Spritzern zu wecken. Aber der schüttelte die Tropfen nur ab, wandte ihm den Rücken zu, nahm einen Schluck von dem Zaubertrank und fütterte die Geyer.

Plötzlich bemerkte der See ein eifriges Treiben. Die Geyer begannen, auf der einzigen kleinen noch blühenden Insel inmitten seines trüben Wassers ein Nest zu bauen. Da packte ihn ein heiliger Zorn, und mit seiner ganzen gestauten Kraft, mit all seinem verbliebenen Mut – auch der kleine,
fast verschüttet gegangene Übermut kam ihm zur Hilfe - mit all seiner verzweifelten Sehnsucht bäumte er sich empört auf und riss die riesige Staumauer nieder. Endlich erlöst von allen Zwängen rauchte er davon.

Ungläubig, ja entsetzt, stand sein Zauberer vor dem, was er anrichtete, und vor Schreck ließ er die Flasche fallen, die Flasche mit dem Zaubertrank. Auf den Resten der Mauer zersprang sie in tausend Stücke.

"Komm mit", rief der Wildbach, "komm mit!" Hin und her gerissen zwischen Gewohntem und Neuem, zwischen Liebe und vermeintlicher Verpflichtung zögerte der Zauberer noch eine Weile. Doch als er sah, dass sich der kleine Wildbach zu entfernen drohte, fasste er sich ein Herz und mit einem Jauchzer der Befreiung stürzte er sich in die Fluten, während die Geyer kreischend das Weite suchten.

Verwundert stellte er fest, wie schön, wie wunderbar das Leben sein kann und dass er schwimmen, lachen, ja sogar jubeln konnte. Und er merkte beglückt, dass all das viel mehr Vergnügen bereitet als das Festhalten an alten Gewohnheiten und das Errichten monumentaler Bauwerke mit Hilfe eines Zaubertrunks.

Gemeinsam strömten sie fröhlich dahin, halfen sich gegenseitig über Klippen, schlängelten sich durch Wiesen und Wälder, plätscherten durch beschauliche Orte, rauschten an lauten Städten vorbei und ließen bunte Schmetterlinge auf ihren Schaumkronen reiten. Den welkenden Blättern und gebrochenen Zweigen, die auf sie niedersanken, spendeten sie Trost und müden Wanderern Erfrischung. Sie nahmen die Regentropfen bei sich auf und verbündeten sich mit Gleichgesinnten, die von allen Richtungen auf sie zu kamen, zu einem großen starken Strom - immer ein Ziel vor Augen: das Meer, das von Nichts und Niemandem einzuengende Meer, in dem sich alles vereint und doch alles frei ist.

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